Industriereportagen by Wallraff Günter
Autor:Wallraff, Günter [Wallraff, Günter]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2014-06-07T22:00:00+00:00
«Sinter zwo» - im Stahlwerk
Eine Stadt aus Rauch und Ruß, und der graue Belag auf den Backsteinfassaden ist wirklicher als die Steine darunter. Die Äste der Bäume sind kahl und nebelhaft weiß, als wären sie mit Milben bedeckt. Farblos sind die Gesichter der Menschen.
Hier gibt es keinen richtigen Himmel, nur nachts das rötliche Zucken der Wolken.
Die Fabrik ist größer als die Stadt. Ein unersättlicher Polyp, der mit seinen Fangarmen in alle Straßen greift und sich zwischen Wohnblocks und Geschäftshäuser drängt.
Die Ankunft in einem düsteren Land.
Die Fabrikanlage, in der ich mich melden soll, besteht aus kilometerlangen fensterlosen Gebäuden, kastenförmig ohne Lücke aneinandergekoppelt und ineinander verschachtelt, mehrfach überragt von Schornsteinen, die wie stumme Wächter darüberstehen. Keine Fabrik, wie sie mir von früher her bekannt ist, keine hin und her laufenden Arbeiter, keine Höfe und Innenflächen, überhaupt keine Menschen. Nicht der übliche Arbeitslärm, wie er durch Menschenhand entsteht. Die Fabrik liegt gleichmütig summend da. Es klingt, als verschmelze die Arbeit dort drinnen zu einem einzigen gleichartigen Vorgang, der eigentlich kein Lärm ist, sondern eher ein Keuchen, ein lautes Stöhnen.
Ferngesteuert werden auf Gleisanlagen Waggons bewegt. Staubmassen ergießen sich hinein, dann ruckt die Reihe ein Stück weiter. Keine Lokomotive ist zu sehen, seitlich neben den Schienen laufen Drähte. «Tor 22» ist auf meinem Passierschein vermerkt, und als ich durchgehen will, verstellt mir ein Pförtner den Weg, prüft schweigend meinen Schein und weist mit dem linken Arm die Richtung. Der rechte Ärmel seiner schwarzen Werksuniform baumelt leer herunter.
«Sinteranlage II, Büro A» steht an der Stahltür, ich klopfe an, es meldet sich niemand, ich klopfe noch einmal, und als alles ruhig bleibt, trete ich ein. «Nicht unaufgefordert eintreten!» steht auf einem handgeschriebenen Zettel an einer zweiten Tür, dicke Buchstaben, verspielt und säuberlich ausgemalt. «Wer ist denn da!» ruft jemand unwirsch.
Ich trete ein und halte meinen Zettel hin. Der Mann hinter dem Schreibtisch übersieht ihn und weist mit einer stummen Handbewegung auf den zweiten Stuhl im Raum. «Die schicken mir unaufgefordert Leute, und ich kann sehen, wo ich sie hintue. Eigentlich sind wir im Moment auf allen vier Schichten überbesetzt», begrüßt er mich. «Wohin mit Ihnen nun? Die Anlage kommt jetzt schon mit zwölf Männern pro Schicht aus, und Sie wären der sechzehnte. Schon beim Werksarzt gewesen? Nun, da müssen Sie vorher hin, hier müssen Sie kerngesund sein. Etwa bisher im Pütt gewesen? Nicht? Das ist gut, die haben oft schon in Ihrem Alter was abbekommen. Kommen Sie wieder, wenn Sie beim Werksarzt waren, dann wollen wir mal sehen.»
Beim Werksarzt liest eine Sprechstundenhilfe in weißem Kittel mechanisch einen Katalog Krankheiten herunter. Nach den ersten höre ich schon nicht mehr hin und beeile mich, mit meinem jeweiligen Nein mitzuhalten. Anschließend muß ich unterschreiben. Der Werksarzt läßt mich in eine Art Sektglas urinieren, fühlt meinen Puls und horcht eingehend meine Lunge ab, und während er mit mir spricht, macht er sich an meinem Karteiblatt zu schaffen. «Sie müssen jetzt viel Obst und Traubenzucker essen und regelmäßig Milch trinken - ‹zusätzliche Kalorien und Vitamine› - sag ich immer zu unseren Sinterstaubschluckern»,
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